Traumgeburt oder Geburtstrauma? Zum neuen Unbehagen an der Geburt
Grazer Kooperationspartner: Univ.-Prof. Dr. Stephan Moebius, Institut für Soziologie
Junior Fellow: Franziska Marek, MA BA
Incoming Senior Fellow: Dr.in Sabine Flick, Institut für Soziologie, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Incoming Junior Fellows: Friederike Hesse, MA BA BSc
Zeitraum: September 2020 bis August 2021
Symposium: November 2020
Inhalt:
Seit wenigen Jahren engagieren sich Aktivist*innen der so genannten „Roses Revolution“ gegen geburtshilfliche Gewalt in Europa. Sie beziehen sich dabei auf Erfahrungen respektlosen Umgangs und ungerechtfertigter Behandlung bis hin zu körperlicher Misshandlung, die Frauen unter der Geburt erleben. Während die WHO dazu bereits ein Statement veröffentlicht hat, die Diskussionen um ‚Black Birthing Justice‘ in den USA auf rassistische Strukturen auch in der Geburtshilfe hinweisen und in einigen lateinamerikanischen Ländern geburtshilflichen Gewalt sogar bereits als Rechtsgegenstand verhandelt wird, hat die Debatte in Europa gerade erst begonnen.
Interessanterweise konzentriert sich die europäische, insbesondere deutschsprachige Diskussion stark auf die psychischen Aspekte der Erfahrungen mit geburtshilflicher Gewalt. Mütter, Doulas und Hebammen beschreiben traumatische Erlebnisse während der Geburt und leiten Folgeprobleme beim Stillen, Depressionen und Bindungsprobleme mit dem Säugling aus diesen Traumata ab. Das gemeinsame Vorhaben untersucht vor dem Hintergrund sich formierender Kritiken an gegenwärtigen Bedingungen unter der Geburt, welche gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungsprozesse der Geburt in einer geschlechtertheoretischen Perspektive wirksam sind. Vorstellungen von Normalität im Hinblick auf die Geburtserfahrungen scheinen sich zu verschieben hin zu einer Aufladung der Geburt mit Selbstverwirklichungsansprüchen und somit einem Umschlag zur Geburt als Projekt. Das Geburtserleben wird als quasi transzendente Erfahrung aufgeladen und gerät somit zum biografischen Ereignis. Diese enorme Aufladung des Geburtsgeschehens könnte womöglich dazu beitragen, dass der idealisierte Ablauf durch die reale Klinikerfahrung kontrastiert und gegebenenfalls enttäuscht wird, was dann als traumatisch und/oder gewaltvoll erlebt wird. Zu dieser Entwicklung gehört eine paradoxe Gleichzeitigkeit der Zunahme der Autonomie der Schwangeren und Gebärenden, was Wahlfreiheit und Möglichkeiten zur Geburt angeht, bei ihrer gleichzeitigen Responsibilisierung. Dieser Wandel im Erleben, der Artikulation und den konkreten Bedingungen für Geburt wird im Projekt untersucht.
Dazu gibt es einen Call for Abstracts für ein Schwerpunktheft der Österreichischen Zeitschrift für Soziologie zum Thema „Geburtskulturen im Wandel“ herausgegeben von Sabine Flick, Friederike M. Hesse und Franziska Marek. Einreichung bis 20.12.2020 - mehr Informationen im Call (PDF).
Über das Projekt
Geburtskulturen im Wandel
Cultures of Birthing
Wie auch andere biosoziale Praktiken unterliegen Praktiken rund um das 'Ereignis Geburt' soziokulturellen Veränderungen. Aktuell formieren sich zunehmend Kritiken an vielgestaltigen Aspekten rund um das Geburtsereignis und insbesondere an geburtshilflichen Praktiken, welche auf ein neues Unbehagen an der Geburt hinzuweisen scheinen. Unter anderem über soziale Medien äußern sich auch und vor allem Gebärende selbst, wie der Hashtag "#metoo im Kreißsaal" eindrücklich zeigt. Ebenfalls in diese Debatten eingelassen sind die ehemals emanzipatorischen/feministischen Kämpfe um Autonomie und selbstbestimmtes Gebären, die sich gegenwärtig jedoch als ambivalent erweisen, da sie mitunter durch verschiedene strukturelle Entwicklungen relativiert werden. Es zeigen sich somit spezifische Spannungen, die auf gesellschaftliche Dynamiken verweisen.
Als Auslöser dieser Dynamiken lassen sich verschiedene Tendenzen identifizieren: eine zunehmende Ökonomisierung medizinischer Einrichtungen, pathologieorientierte Versorgungskonzepte und unzureichende Arbeitsbedingungen in der Geburtshilfe. Begleitet werden diese durch Veränderungen der professionellen Zuständigkeiten bzw. durch das Aufkommen neuer Akteursgruppen, wie dies z.B. Verbreitung von Doulas im europäischen Raum zeigt. Gleichzeitig wird bereits seit einigen Jahren die Aufladung der Geburt mit Selbstverwirklichungsansprüchen und einem Umschlag zur Geburt als 'Projekt' diskutiert. In der Zunahme von Autonomie der Schwangeren und Gebärenden, hinsichtlich ihrer Wahlfreiheit und den Möglichkeiten in der reproduktiven Gesundheitsversorgung, werden zugleich spezifische Subjektivierungs- und Responsibilisierungsweisen wirksam. Mitunter rekurrieren öffentliche Beiträge auf den Wunsch nach einer 'natürlichen' oder 'sanften' Geburt, der meist mit einer Naturalisierung von Körpern, Geschlecht, Mutterschaft und Weiblichkeit einhergeht. Jene Praktiken der Allein- und Hausgeburt, bei der das 'somatische Wissen' der Gebärenden (wieder) ins Zentrum der Geburt treten soll, sind einschlägige Beispiele für das Phänomen der Bioromantisierung der Geburt.
Aus dem Blick dieser womöglich recht eurozentrischen Perspektive auf Geburt geraten diejenigen, deren Körper anders biopolitisch regiert werden: Das Dispositiv der mit einem Normkörper versehenen Schwangeren reguliert den Zugang zu Geburtsorten. Rassifizierungen und soziale Ungleichheiten werden so in die idealtypische Konstruktion 'guter' Geburtserfahrungen eingeschrieben. So verweisen die Diskussionen um 'Black Birthing Justice' in den USA konkret auf rassistische Strukturen in der Geburtshilfe. In einigen lateinamerikanischen Ländern wird geburtshilfliche Gewalt bereits als Rechtsgegenstand verhandelt. Auch in Europa artikuliert sich inzwischen eine Debatte um Zugriffe auf Geburtspraktiken und das damit in Beziehung stehende Geburtserleben der Subjekte. Seit einigen Jahren engagieren sich Aktivist*innen der so genannten 'Roses Revolution' gegen geburtshilfliche Gewalt in Europa. Sie beziehen sich dabei auf Erfahrungen respektlosen Umgangs und ungerechtfertigter Behandlung bis hin zu körperlicher Misshandlung, die Gebärende erleben. Frauen sprechen öffentlich über als traumatisch beschriebene Geburtserfahrungen und verweisen in diesem Zusammenhang auf die Folgen der weitreichenden Medikalisierung von Geburt.
Gebären ließe sich also als aufschlussreiche gouvernementale biopolitische Praxis verstehen; in Geburtserfahrungen spiegelt sich ein hochkomplexes und intersektional zu betrachtendes Zusammenspiel gesellschaftlicher Machtstrukturen wider. Das Projekt 'Geburtskulturen' adressiert den sozialen Wandel rund um Geburt/Gebären aus kulturtheoretischer Perspektive insofern, als Wissensordnungen soziale Praktiken ermöglichen und einschränken.
Symposium
Cultures of Birthing - Geburtskulturen im Wandel
10. & 11. November 2020
Zweitägiges Symposium mit Vorträgen von
- Dr.in Rachelle Chadwick (University of Pretoria, Südafrika): Birth and the politics of un/happiness
- Dr. habil.in Sabine Flick (Universität Graz, Österreich): Traumgeburt oder Geburtstrauma? Zum neuen Unbehagen an der Geburt
- JProf.in Dr.in Lisa Malich (Universität zu Lübeck, Deutschland): Die Gefühle der Gebärenden. Eine Geschichte somatischer Emotionalität